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Kostbar & haarig: Worauf unser Gehirn steht

// Meinung Photo by Siora Photography on Unsplash

Als Redakteur oder Texter hat man es im normalen Leben nicht leicht: Hipster, die eine Bar eröffnen, foltern uns mit besonders kreativen Adjektiven, die auf -bar enden und die sie ganz groß und stolz über ihre Tür hängen (kostbar, wunderbar, scheinbar, sichtbar, ...). Ziemlich verzichtbar.
Frisöre treiben es mit ihren haarigen Andeutungen auf die Spitze: Haarmonie, Schnittstelle, haarscharf, Pony&Kleid. Ich war regelrecht erleichtert, als ich am Frisör Beate vorbeiradelte, dass dieser ganz und gar ohne Wortspiele klarkommt. Dabei wäre „BEhaArTE" ein echter Steilpass gewesen. Und dann sind da noch die Kioske, Imbisse und Copyshops, die sich allesamt nach langem Abwägen für die englische Zeichensetzung entschieden haben (Silvi's Copyshop, Ali's Imbiss)

Es ist kompliziert ...

So richtig am Bluten ist das Texterherz aber erst, wenn es total kompliziert wird. Sätze über 25 Zeilen, die nie enden wollen. 123 Kommas. Und ganz viele Wörter, die auf -tion enden. Die möglichst gebildet, wichtig und international klingen und dem Leser vermitteln: Wenn du nicht mitkommst, liegt das an dir. Ich bin halt smart.
So wurde es den meisten von uns schließlich in Schule und Uni eingetrichtert: Fachwörter nutzen, kompliziert bedeutet komplex! Wahrscheinlich hat es ja auch Sinn gemacht, all diese Fachwörter einmal zu lernen. Aber wer Texte schreiben möchte, die gern gelesen und gut verstanden werden sollen, – egal ob als Redakteur, Blogger oder im Liebesbrief – sollte auf einfache Wörter vertrauen. Kurze Sätze, klare Strukturen, anschauliche Wörter mit wenigen Silben.

Das legen Journalisten wie zum Beispiel Wolf Schneider bereits seit etlichen Jahrzehnten fleißigen Jungtextern in ihren Ratgebern ans Herz. Dass sie recht haben, bestätigt nun die Hirnforschung. Dank neuer Verfahren ist es möglich, Gehirne beim Lesen und Verarbeiten von Sprache zu „beobachten". Durch das Messen von Hirnströmen sehen Wissenschaftler, wann ein Text verstanden wurde. Außerdem können sie erkennen, welche Hirnareale involviert sind.

Voll die Anfänger

Wir Menschen können erst seit 5.500 Jahren lesen – evolutionsmäßig ein ziemlich kurzer Zeitraum. Es ist ein komplexer Vorgang und eine ziemliche Leistung unseres Gehirns. Chinesen lesen, indem sie das Bild erkennen. Und obwohl unsere Schrift eine Lautschrift ist, funktioniert sie ähnlich: Unser Gedächtnis speichert die Schriftbilder. Daher können wir auch Wörter, bei denen nur der erste und der letzte Buchstabe an der richtigen Stelle stehen, sofort entziffern. Komplizierte Wörter haben wir nicht als Schriftbild abgelegt, sie zu lesen, ist viel energieaufwendiger. Und hier gilt das umgekehrte Prinzip wie auf dem Crosstrainer: Unser Gehirn will möglichst wenig Energie verbrauchen.

Konkret, ey

Darüber hinaus kommt es auf den Speicherort an: Die Hirnforschung weiß, dass unser Gehirn abstrakte Begriffe an anderer Stelle ablegt als konkrete. Lesen wir „Rezeptionskompetenz", „Globalisierungsprozesse" oder „Digitalisierungsoffensive" laufen Hirnareale für abstraktes Denken auf Hochtouren – eine anstrengende Sache. Wir können uns außerdem schlechter an diese Begriffe erinnern. Hingegen aktivieren konkrete Wörter wie „Salz" oder „Zitrone" unsere gustatorischen Areale – unseren Geschmackssinn. Lesen wir sie, schmecken wir fast salzig und sauer auf der Zunge. Das hinterlässt einen bleibenden Eindruck, ein Gefühl bei uns. Und das sollen tolle Texte ja.

Photo by Siora Photography on Unsplash

Als Texter kann man einfach nicht aus seiner Haut. Da reicht schon eine charmante Übersetzung auf einer Speisekarte aus, um uns zum Lächeln zu bringen. Mein absolutes Highlight war eine Karte in einem Restaurant an der französischen Atlantikküste: Da sollte in meinem Salat doch tatsächlich ein Rechtsanwalt drin sein! Da hat wohl jemand „Advokat" statt „Avocado" in den Google-Übersetzer getippt ...